Cover
Titel
Une déstalinisation manquée. Tchécoslovaquie 1956


Autor(en)
Blaive, Muriel
Reihe
Histoire du temps présent
Erschienen
Brüssel 2005: Éditions Complexe
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pavel Kolar, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Muriel Blaive liefert mit ihrer Pariser Dissertation über die Entstalinisierung in der Tschechoslowakei einen fundamentalen Beitrag zur Geschichte der staatssozialistischen Diktatur in Ostmitteleuropa. Die Untersuchung regt die Forschungsdiskussion an, zum einen durch die ambitionierte longue-durée-Perspektive, zum anderen durch ihren Anspruch einer gesellschaftsgeschichtlichen Interpretation der Stabilität staatsozialistischer Herrschaft.

Blaive geht von einer negativen Frage aus: Warum kam es 1956 in der Tschechoslowakei im Unterschied zu Polen und Ungarn zu keiner parallelen Umwälzung? In einer Übersicht der bisherigen Forschungsliteratur stellt Blaive fest, dass das Jahr 1956 in den meisten Darstellungen, ungeachtet deren politisch-ideologischen Grundausrichtung, schlicht ignoriert wurde. Sowohl Zeitzeugen/innen als auch Historiker/innen haben ereignisreiche Jahre wie 1948 und 1968 bevorzugt, auf Kosten der sozialhistorischen Perspektive, die eher nach „Nicht-Ereignissen“ schaut. Ausgehend von der Annahme, dass gerade ein „Nicht-Ereignis“ tief liegende Bindekräfte der KPTSch-Herrschaft erleuchten kann, entfaltet Blaive vor den Lesern/innen eine ambitionierte, gesellschaftsgeschichtlich angelegte Darstellung, die Antworten auf die Frage des „tschechoslowakischen Sonderwegs“ in den Kernbereichen politische Herrschaft, Wirtschaft und nationale Identität sucht.

Zuerst rekonstruiert Blaive die Reaktionen auf den XX. Parteitag der KPdSU sowohl in der Partei als auch in der breiten Gesellschaft, die Kontrastfolie Ungarn und Polen stets im Auge behaltend. Das anfängliche Bemühen der Parteiführung, keine Diskussion über den Parteitag zuzulassen, ist zwar gescheitert, doch war die parteiinterne Debatte eher dürftig. Eine kritische Parteiöffentlichkeit hat sich nicht herausgebildet. Ähnlich gering war auch die gesellschaftliche Resonanz; die wenigen kritischen Stimmen am Schriftstellertag im April 1956 sowie das Studentenfest Majáles konnten daran nur wenig ändern. Wie Blaive jedoch anschaulich beweist, waren die Ergebnisse des Parteitages einschließlich von Chruschtschows Geheimrede in der breiten Gesellschaft durchaus bekannt. Die Passivität der tschechischen Gesellschaft wurde also nicht durch den Informationsmangel verursacht.

Deshalb fragt Blaive zunächst nach den Ursachen des parteiinternen Konsenses. Die halbherzige Auseinandersetzung Prags mit dem Stalinismus ist aus ihrer Sicht nicht nur auf die „Verstrickung“ der Parteispitze in die stalinistischen Verbrechen selbst zurückzuführen. Genauso unzureichend scheint der Versuch, die Stabilität als Folge der im Vergleich zu Polen und Ungarn drastischeren Parteisäuberungen zu erklären. Stattdessen interessiert sich Blaive dafür, warum etwa der Vorwurf des Personenkultes bezüglich Gottwalds so vehement zurückgewiesen wurde.

In diesem Punkt verlässt die Autorin das politikgeschichtliche Narrativ und wendet sich einer kritischen Überprüfung der historiografischen Darstellungen über den tschechoslowakischen Kommunismus zu. Als auffällig erschien ihr die grundlegende Übereinstimmung der Autoren/innen verschiedener Couleur in der Hervorhebung des „demokratischen Erbes“ der KPTsch. Laut der meisten Darstellungen war es die Prägung der KPTsch durch ihre Entstehung in der demokratischen Tschechoslowakei, die das Besondere an der „tschechischen Dualität“ von nationaler Tradition und der Abhängigkeit von der Sowjetunion ausmachte (S. 75). Infolge dieser Akzentuierung wird der stalinistische Terror als etwas der tschechischen demokratischen Tradition Fremdes externalisiert. Anschaulich schlägt sich dies in der nachsichtigen Behandlung Gottwalds, für die Ausdrücke wie „Missbrauch“, „Opfer“ oder „machtloser Alkoholiker“ charakteristisch sind. Zweitens weist Blaive darauf hin, dass in der Literatur der „außerordentliche Grad“ des Terrors im tschechoslowakischen Stalinismus als Ursache für die Passivität immer wieder betont und die Repression aufgebauscht und höher als in Ungarn und Polen gesetzt wird. Daraus schließt Blaive eine „paradoxe Proportionalität“ zwischen der Vorstellung einer außerordentlich brutalen Repression und der Grundannahme der demokratischen Tradition: Je tiefer die „demokratische Tradition“ verwurzelt ist, desto mehr Repression ist zu ihrer Ausrottung notwendig (S. 99).

Um dieser fortdauernden Prägungskraft der Demokratievorstellung auf die Spur zu kommen, wendet sich Blaive den Biografien zweier bedeutendster Historiker des tschechoslowakischen Kommunismus zu: Karel Bartošek und Karel Kaplan. Beide durchliefen den „typischen“ Lebenslauf kommunistischer Intellektueller, von überzeugten Stalinisten über Reformsozialisten zu Widersachern des kommunistischen Projekts, ohne jedoch ihr „mentales Gepäck“ in ihren späteren Werken hinreichend reflektiert zu haben. Blaive zeigt, wie die Erinnerungen dieser Historiker, vor allem ihre fundamentale Erfahrung der Jahre 1945-1948, der Zeit des „spezifischen Weges zum Sozialismus“, das vorherrschende tschechische Bild der Parteidiktatur bestimmen.

Angesichts dieser Verflechtung von Geschichte und Erinnerung verwirft Blaive endgültig die essentialistisch eingefärbten Erklärungen und erwägt andere Deutungsmöglichkeiten im Bereich der tief liegenden Gedächtnisschichten und Diskurse der nationalen Identität. Sie kehrt zurück in die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, schildert die Frage der deutschen Minderheit und das „Trauma von München“, in dem sie den grundsätzlichen Wendepunkt im Selbstverständnis der Tschechen als Teil des Westens sieht. Die Parole „Nie wieder München“ symbolisierte die tschechische Abwendung vom Westen und die „Rückkehr“ in die eigene Kulturtradition des 19. Jahrhunderts, einschließlich des Panslawismus. Am stärksten zeichnete sich diese Richtungswende gerade bei den Kommunisten ab, die in den 1920er-Jahren dezidiert internationalistische Positionen vertraten und sich erst nach 1943 eine antideutsche Rhetorik zu eigen machten. Blaive stellt die Unterschiede zusammen, die die befreite Tschechoslowakei von Polen und Ungarn trennten, wie etwa den eindeutigen Siegerstatus, die Nichtbesetzung des Landes durch die Rote Armee, sowie das Ausbleiben von Plünderungen und Deportationen. Hinzu kam das schlechte Bild von Polen und Ungarn aus der Kriegszeit, das selbst die Beziehungen zwischen den „Brüderparteien“ nach 1945 nicht unberührt ließ. Besonders das negative Bild von Ungarn erschwerte eventuelle Sympathieäußerungen gegenüber dem Budapester Aufstand. Es war gerade das durch Abgrenzung von den Nachbarländern bekräftigte demokratisch-exklusive Selbstbild der Tschechen, das die gesellschaftliche Passivität 1956 in entscheidender Weise prägte. Diesem „nationalen Faktor“ schloss sich, laut der Autorin, auch die günstige Wirtschaftslage als ein weiterer gewichtiger Umstand an, der einen Massenaufstand verhindern half.

So geschlossen und in sich stimmig Blaives Beweisführung auch wirkt, so hätte eine Differenzierung und Vertiefung der zentralen Argumentation der Analyse trotzdem gut getan. Zuerst wird deutlich, dass die Verfasserin bei ihrem Bemühen, eine übergreifende Interpretation zu liefern, doch zu viele Felder in die Untersuchung einbezog und diese dann nicht verfeinernd unter die Lupe zu nehmen vermochte. Demzufolge drängt sich stellenweise der Eindruck von einer gewissen Unfertigkeit der Untersuchung auf: Sobald eine analytische Vertiefung eines Arguments notwendig erscheint, springt die Autorin sofort zur nächsten Frage, die jedoch oft nur genauso andeutungsweise behandelt wird. Andererseits wirken einige deskriptive Passagen als Fremdkörper im Text, ihre Funktion in der Beweisführung wird nicht ganz klar – das betrifft z.B. die detaillierte Nacherzählung der innerparteilichen Machenschaften nach dem XX. Parteitag, die Entwicklung der deutschen Frage im Exil (S. 127-138) sowie die Kontroverse um Arthur London (S. 103-110). Hier werden die Leser/innen abschnittsweise durch eine Masse von Details erdrückt.

Vor allem aber gibt Blaives Arbeit mit den Quellen Anlass zur Kritik. Es ist wohl zu begrüßen, dass die erstmal als „Sekundärliteratur“ herangezogenen Geschichtsdarstellungen, nachdem die Verflechtung von Geschichte und Gedächtnis zur Zentralachse der Untersuchung wurde, zu Quellen der Erinnerungsforschung avancierten. Gerade im Umgang mit den historiografischen Darstellungen verdeutlichen sich jedoch normative Vorannahmen der Autorin, die eine konsequente Historisierung des untersuchten Problems beeinträchtigen. So wirft sie beispielsweise den Historikern „Subjektivität“ (S. 105), „Illusionen“ (S. 116), „Mangel an Neutralität“ bzw. „nicht als Historiker“ gearbeitet zu haben (S. 110) vor. Der Betrachtung der Texte Kaplans und Bartošeks fehlt es an analytischer Distanz, sie geht manchmal in Polemik über, als ob die Autorin eher nach der von den Historikern „verzerrten“ Wahrheit suchte, statt die Texte positiv als identitätsstiftende Selbstdarstellungen zu begreifen, ungeachtet ihres vermeintlichen „Wahrheitsgehalts“. Viel Energie verwendet Blaive darauf, die Behauptungen der Historiker zu widerlegen oder mit Hilfe neuer Archivforschungen ihre „Glaubwürdigkeit“ zu überprüfen – z.B. wenn sie sich um den Nachweis bemüht, dass Gottwald doch an Slánskýs Beseitigung aktiv mitwirkte (S. 118).

Äußerst problematisch scheint die Wirtschaftsthese. Sie ist lediglich durch einige Zahlen abgestützt, die dokumentieren sollen, dass es den Tschechen verhältnismäßig gut ging, und dies wird dann zum „wirtschaftlichen Faktor“ erhoben. Das ist nichts anderes als grober Determinismus, denn der wirtschaftliche „Wohlstand“ muss genauso wenig zur Passivität führen wie „Not“ zum Protest. Eine Protestbewegung kann sich erst durch Wahrnehmung und Artikulation von Missachtung entwickeln, und das stets im Kontext spezifischer kollektiver Erfahrungen und diskursiver Handlungsrahmen. Gleiches gilt für die Deutung der tschechischen Passivität aus „Angst“ (S. 67), die Blaive zwar ablehnt, aber vorher doch als potentielle Erklärung diskutiert. „Wirtschaftswohlstand“ und „Angst“ sind aber nicht als „Faktoren“ zu denken, die von Außen auf die Subjekte einwirken, sondern als historische Bedeutungszusammenhänge, die durch – gänzlich widerspruchsvolle – Erfahrungen überhaupt erst entstehen. Insgesamt wirkt die Hinzufügung der Wirtschaftsthese zu dem auf Geschichtsbilder und Identitätsdiskurse gerichteten Zentralargument als durch das Bedürfnis betrieben, „weiche“ kulturgeschichtliche Deutung durch „harte Realität“ zu „untermauern“ und dadurch potentielle Kritik im Vorfeld zu entkräften. Man kann hoffen, dass dies mittlerweile nicht mehr notwendig ist.

Trotz dieser Einwände ist daran festzuhalten, dass Déstalinisation manquée eine für die Forschung über die Geschichte der KPTsch-Diktatur in mehrerer Hinsicht wegweisende Studie darstellt, die die grundlegenden Fragen der Herrschaft und Integration in der staatssozialistischen Diktatur behandelt. Die Untersuchung besticht vor allem durch ihr Anliegen, die Fundamente der tschechischen politischen Kultur im 20. Jahrhundert in langfristiger Perspektive aufzuhellen, einschließlich der exklusionistischen Demokratievorstellung, die die tschechische gesellschaftliche Selbstbeschreibung bis heute weitgehend bestimmt. Der von der Autorin in der Einleitung erzählte zeitgenössische Witz, „in 1956 verhielten sich die Ungaren wie die Polen, die Polen wie die Tschechen und die Tschechen wie die Säue“, dokumentiert den Widerspruch, in welchem sich das nicht schmeichelhafte Bild der Tschechen im Ostblock mit ihrer eigenen Selbstwahrnehmung befand. Somit leistet das Buch auch einen kritischen Beitrag zur Historisierung der noch in der Gegenwart wirkungsmächtigen nationalen Selbst- und Fremdentwürfe in Ostmitteleuropa.

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